Heimatborn, 1921, Nr. 10

Persönliche Erinnerungen von Dr. Baruch, Paderborn

Der eine oder andere Leser kennt vielleicht den in der Kriminalbibliothek von J. D. H. Temme erschienenen Roman: Wildschütz Klostermann, der, wenn ich nicht irre, den Untertitel "ein moderner Rinaldo Rinaldini" führte. In diesen Schilderungen ist mit dichterischer Freiheit Wahres und Falsches bunt durcheinandergemengt. Da ist vor allem Dingen Klostermann selbst abgebildet als ein starker Mann mit großem Vollbart und langem Haar, einem Hut mit stolzem Federstoß auf dem Haupte, im knappanliegenden Jägerrock, den Hirschfänger am Gürtel, in hohen, bis an den Leib reichenden Kürrassierstiefeln; und in kühner Ausfallstellung schießt er einen Forstbeamten nieder. Von alle dem hatte der Mann nichts an sich. Ich hatte Gelegenheit, Klostermann im Jahre 1866 oder 67 kennen zu lernen, als er meinen Vater, der damals noch als Arzt in Rhoden wohnte, wegen Unpässlichkeit aufsuchte. Der Wilddieb, den mein Vater sehr wohl kannte, da er ihn auch sonst schon behandelt hatte, betrat unbefangen das Zimmer. Er war nicht "über 5 Fuß" groß, sondern höchstens von Mittelgröße; in den Nacken fiel das Haar nicht in reichen Locken herab, sondern es war damals so geschoren, wie es vernünftige Menschen damals trugen und heute tragen. Statt des malerischen Jagdrockes hatte er den blauen Leinenkittel an, wie er zumal im Waldeckschen bei den Landleuten üblich war, und nicht den dunkelgrünen, den die Forstleute vorzogen. Kein räubermäßiger Vollbart bedeckte die Wangen, aber ein langer, blonder Schnurbart zierte die Oberlippe. Klostermann hatte schöne blaue, scharfblickende Augen, prächtige weiße und regelmäßige Zähne und eine blühende Gesichtsfarbe. Der Körper war schlank und sehnig, das Benehmen freimütig, sicher und selbstbewusst, jedoch durchaus bescheiden. Nachdem der Zweck seines Besuches erledigt war, wandte die Unterhaltung sich anderen Dingen zu, namentlich erregten Klostermanns Aufmerksamkeit die an der Wand hängenden Jagdgewehre meines Vaters, Geweihe, Gehörne und ausgestopftes Wild. Ein in der damaligen Zeit bei den Jäger noch nicht häufig anzutreffender Lefaucheux [Gewehr] fesselte ihn ganz besonders. Er nahm ihn zu genauerer Besichtigung vom Nagel. Inzwischen war auch meine Mutter in die Stube gekommen und als sie sich bei Klostermanns Hantierung mit der Flinte ängstlich zeigte, sagte dieser lachend:" Sie haben ganz Recht Frau Doktor, bei Gott ist nichts unmöglich, da kann auch ein ungeladenes Gewehr losgehen." Dann hängte er die Waffe wieder an ihren Platz, erkundigte sich aber ob mein Vater sie ihm nicht verkaufen wolle. Der verneinte und gab der Ansicht Ausdruck, man dürfe ihn doch nicht in seinem Berufe noch fördern. Dann fragte er:" Was meinen Sie, Klostermann, wenn ich nun den Gendarm hätte rufen lassen?" Klostermann entgegnete: "Wenn ich Sie dazu für fähig gehalten hätte, würde ich dann zu Ihnen gekommen sein? Sie haben mich doch auch sonst behandelt und mich nicht verraten." "Nun," antwortete mein Vater, "dann geschieht es auch heute nicht, denn Sie sind nicht der Wildschütz, sondern der kranke Klostermann. Und jetzt trinken Sie mit uns Kaffee." "Das nehme ich mit Dank an," sagte Klostermann und setzte sich ruhig mit zu Tisch. Er erzählte dabei, wie kürzlich eine Schleife von einer halben Kompanie Soldaten auf ihn stattgefunden habe. Da habe er sich den Schnurrbart abrasiert, Weiberzeug angezogen, ein Tuch um das Gesicht gebunden, einen Kringel und eine Kiepe auf den Kopf genommen, und als die Soldaten nach Oesdorf einmarschierten, sei er ruhig an ihnen vorbeigegangen, ohne dass sie den geringsten Verdacht geschöpft hätten. Ein andermal habe er im Wirtsgarten in Westheim, ohne sich stören zu lassen, gegessen, während im Dorfe und selbst im Hause eifrig nach ihm gesucht wurde. Er bedankte sich nun höflich für die Speise und Trank und fragte meinen Vater, was er zu zahlen habe. "Es ist schon gut so, "sagte der, "dass wissen Sie doch von früher her." "Damals," erwiderte Klostermann," hatte ich ja wirklich nichts, aber jetzt habe ich Geld. Ich habe in dieser Woche schon für 30 Taler Decken (Rehfelle) verkauft. Also schenken Sie es lieber einem Armen als mir. Aber dort im Orpetal wechselt ein kapitaler Bock, den holen Sie sich. Dann verabschiedete er sich treuherzig von allen, und damit endete dieser für mich denkwürdige Besuch.
Es ist richtig, wie Herr Gembris in Nr. 9 des Heimatborns angibt, dass Klostermann bei dem Landvolk ungemein beliebt war, weil er die Felder vor Wildschaden bewahrte und auch wohl deshalb, weil er sonst half und eine wirklich einnehmende Persönlichkeit war, deren Zauber sich keiner so leicht entzog. Desto größer war die Wut des waldeckschen Forstpersonals auf Klostermann, wie ich aus Mitteilungen des ehemaligen Oberförsters Rickelt in Rhoden und meines Vaters weiß, die eng befreundet waren. "Der Kerl ist ein Aasjäger," pflegte der Forstmann zu sagen. Mit vollem Rechte! Denn Klostermann trieb sein Wesen nicht lediglich aus Lust und Leidenschaft am Waidwerk, sondern zum Teil gewiss rein geschäftlich, weil ihm eine andere geordnete bürgerliche Beschäftigung nicht zusagte. Er ruinierte den Wildbestand und schoss die Ricke mit dem Kalb. Schonzeit kannte er nicht. Von seiner großen Kunstfertigkeit im Schießen wurde viel gefabelt, doch war es die Schrotflinte, mit der er sich betätigte, und nicht die weit höhere Geschicklichkeit erfordernde Kugelbüchse. So hat der Oberförster von Wrede und der Forstaufseher Heinemann jeder seinen Denkzettel mit Schrot bekommen. Auch war Klostermann in kritischen Augenblicken nicht immer der Ritter ohne Furcht und Tadel, den das Volk in ihm sah. Bekanntlich ist sein Genosse Lohoff durch ihn zu Tode gekommen und zwar, wie mein Vater erzählte, indem Klostermann den Lohoff blitzschnell zu seiner Deckung vor sich schob, als der Soldat Struck auf ihn - Klostermann - anschlug. Das hat der sterbende Lohoff meinem Vater gesagt und darum hat er angegeben, dass Klostermann sowohl den Oberförster von Wrede wie auch den Forstläufer Heinemann angeschossen hatte. Wenn man sich die geschäftliche Gewinnsucht und die perfide Handlungsweise gegen Lohoff, dem er Sicherheit versprochen hatte, vergegenwärtigt, dann verliert dieser "letzte Wildschütz des Eggewaldes" doch viel von seinem Nimbus, und man versteht nicht, wie die Damenwelt, die im Jahre 1867 dem Prozesse beiwohnte und in dem mein Vater als Sachverständiger tätig war - er hatte v. Wrede und Heinemann behandelt - immer wieder den Ruf: Gnade, Gnade erheben konnte.
Nach seiner Haftentlassung soll Klostermann sich nach Süd - Deutschland gewendet haben und zuletzt in Baden gewesen sein. Dann ist er spurlos verschwunden und verschollen.


Der Aufsatz in Nr. 9 des Heimatborn über Klostermann, den letzten Wildschützen des Eggewaldes weckt Erinnerungen aus meiner Primanerzeit. es war im Jahre 1877 oder 78, als Klostermann nach Verbüßung seiner achtjährigen Zuchthausstrafe wieder beim Wildern ertappt und in das Warburger Gerichtsgefängnis in Untersuchungshaft eingeliefert wurde. Dieses Gefängnis befand sich im früheren Dominikanerkloster, wo auch das Gymnasium untergebracht ist. Die Zelle für Klostermann lag gerade unter der Prima und die Primaner hatten es bald heraus, dass dieser, für sie so interessante Hausgenosse unter ihren Füßen weilte. In den Pausen entwickelte sich mit Hilfe eines längeren Bindfadens ein lebhafter Verkehr zwischen den Fenstern der Prima und dem, mit dem bekannten Holzkasten versehenen Zellenfenster Klostermanns. Nachdem durch heruntergelassene Zigarren, Bierflaschen und dergleichen das erforderliche zutrauen zwischen beiden Parteien hergestellt war, wurde schriftlich vereinbart, dass Klostermann im Falle seiner Freisprechung auf einer bestimmten "Bude" erscheinen und seine Erlebnisse zum Besten geben solle.
Klostermann wurde tatsächlich freigesprochen und hat die Vereinbarungen innegehalten. Zwischen einer größeren Zahl von Pennälern und einer noch größeren Zahl Bierflaschen saß er am Abend nach dem Freispruch und erzählte. Die persönliche Berührung hat aber bei Manchem der Zuhörer die Sympathien für ihn nicht vermehrt.
Es wurde damals erzählt, dass die Freisprechung der glänzenden Verteidigung seines Rechtsbeistandes zuzuschreiben sei, die auch zu einem Zusammenstoße mit dem Staatsanwalt führte. Dieser soll dem Verteidiger vorgeworfen haben, er scheine mit dem Angeklagten zu sympathisieren. 
Interessant ist weiter, dass Klostermann einige Jahre später von seinem Verteidiger in dessen eigener Jagd beim Wildern abgefasst und nach einer allerdings nur kurzen Gefängnisstrafe (Nach einer uns aus Köln zugehenden Mitteilung soll es ein Jahr gewesen sein. Der Herausgeber.) zugeführt wurde. in späteren Jahren soll das Sehvermögen Klostermanns so abgenommen haben, dass er an die Ausübung seiner verwerflichen Gewohnheit nicht mehr denken konnte.
Oberbaurat Evers=Coblenz